Schwarze Gedanken

Ich glaube alle Eltern mit Sternenkindern haben schwarze Gedanken. Ich hatte viele davon und sie begannen schon, noch bevor du deinen letzten Weg angetreten hast, kleiner Schmetterling. Eigentlich spricht man über so etwas nicht – leider. Ich will mit dem Tabu brechen, wie ich mit vielen Tabus gebrochen habe, seitdem du weg bist. Ich bin eines morgens wach geworden und der schwarze Gedanke saß feist hinter meiner Stirn. „Wenn ich dich  nicht mehr mit nach Hause nehmen kann, wenn wir nicht gemeinsam hier aus dem Krankenhaus herauskommen, dann muss ich mich umbringen.“ Es steckte keine Wertung darin. Es war eine Feststellung. Ebenso wertungsfrei wie „der Himmel ist blau“. Nachdem du davongeflogen warst wollte ich nichts mehr, als dir hinterherzugehen. Wann immer ich eine schwierige Phase in meinem Leben hatte und schwarze Gedanken kamen, war es immer der Gedanke an meine Familie und ihr Leid, der mich dazu brachte, die Gedanken fortzuschieben. Im Krankenhaus betrachtete ich den schwarzen Gedanken von allen Seiten, drehte und wendete ihn, und ich fühlte nur Gleichgültigkeit. Das machte mir Angst. Nachdem du deine Flügel bekommen hattest, hatte ich keinen Hunger, keinen Durst, diese Bedürfnisse waren einfach nicht mehr da. Ich fragte mich, welches Signal mein Körper mir damit geben wollte. Dass ich nicht mehr weitermachen soll? Dass es okay ist, sich von schwarzen Gedanken umarmen zu lassen? Ich habe mit vielen Eltern von Sternenkindern gesprochen. So gut wie alle kennen diese schwarzen Gedanken, in unterschiedlicher Intensität. Sie alle kennen das Gefühl, nur hinterher zu wollen. Dass einem der Rest einfach egal ist. Es ist erschreckend, vor allem weil man nie darüber sprechen darf. Hinter vorgehaltener Hand. Leise und flüsternd, wenn überhaupt. Ich habe dazu keine Lust mehr. Ja. Ich habe daran gedacht, mein Leben zu beenden. Viele Male. Die Verzweiflung bringt das mit sich, die Trauer bringt es mit sich. Aber ich habe es nicht getan. Warum nicht?

Unsere Kinder wollen nichts weniger als das. Du warst so ein lebensfroher, fröhlicher Junge, mein Schmetterling, mein Mika. Du hättest nicht gewollt, dass ich dir hinterherfliege. Du willst, dass ich lächle. Du willst, dass ich glücklich bin. Unsere Kinder wünschen sich, dass wir wieder froh werden. Sie wünschen sich, dass wir wieder die Sonne in unsere Herzen lassen und die Dinge für sie erleben, die sie selbst nicht mehr erleben können. All die Sommer, die ihnen verwehrt bleiben. All die Blumen und Schmetterlinge, die Schwimmbadbesuche, die Geburtstage, den Mondschein, die Lieder und die Kirschen. Und Millionen Sachen mehr. Sie erleben diese Dinge durch uns und dafür brauchen sie uns. Und ein weiterer Faktor kommt für mich ganz persönlich noch hinzu. Ich bin sicher, dass ich dich wiedersehen werde, nachdem ich sterbe, kleiner Schmetterling. Aber ich weiß nicht, ob ich dich auch dann treffen darf, wenn ich verfrüht hinterhergegangen bin, und ob du vielleicht traurig bist, wenn wir uns sehen und ich komme zu früh. Vielleicht ist es albern. Vielleicht auch nicht. Aber die anderen Gründe sind noch wichtiger.

Schwarze Gedanken sind normal. Sie sind menschlich. Sie werden durch den Tod empfangen und geboren werden sie aus Trauer und Verzweiflung. Aber der Gedanke an unsere Kinder, an ihre Lebensfreude und ihr Lachen, schiebt sie fort, wie der Wind die Wolken. Nimm weiterhin meine schwarzen Gedanken und puste sie fort, mein Schmetterling, so wie du es immer tust.

4 Gedanken zu “Schwarze Gedanken

  1. Hallo, ich lese seit einer Woche deinen Blog. Und es berührt mich sehr. Ich musste oft weinen. Mein 8 Jähriger Sohn kämpft seit fast einem Jahr gegen den Krebs. Und ich hatte am Anfang echt sowas wie Depressionen, aber solche Internetseiten wie deine machen doch auf einer Seite irgendwie Mut, auch wenn ich nicht sagen kann warum. Mut wahrscheinlich dass man es durchsteht, egal was passiert. Ich hoffe ich drücke mich nicht falsch aus. Ich bewundere dich oder besser gesagt euch sehr, wie ihr damit fertig werdet . Deine Zeilen haben mir trotz not happy End (und das tut mir wirklich leid) Mut gemacht diese schwere Zeit durchzustehen. Vor allem weil ich noch eine Tochter habe , für die ich auch stark sein muss. Und am meisten hat mir der Bericht über „schwarze Gedanke“ zugesagt, das kann ich aber nur hier schreiben und nicht zu jemanden äußern, weil wie du schon gesagt hast Tabuthema usw.

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    1. Liebe Viki,
      es tut mir sehr leid zu lesen, dass dein Sohn auch mit dieser Scheißkrankheit kämpfen muss. Was für ein Krebs ist es denn? Ich wünsche euch von ganzem Herzen viel Kraft für euren Kampf und dass er bald gesund sein wird. Niemand sollte so etwas durchmachen müssen und erst recht kein Kind. Ich kann verstehen, dass du davon depressiv geworden bist. Es ist ein sehr hartes Schicksal mit dem ihr zu kämpfen habt und man braucht seine Zeit, bis man weiß, wie man für sich selbst damit umgehen kann. Ich bin froh, dass du Mut findest aus meinen Zeilen, denn genau das habe ich mir gewünscht – dass es anderen Eltern in der gleichen Situation irgendwie helfen kann. Ich finde wir müssen uns unserer Gefühle nicht schämen und jeder, der uns deswegen verurteilt, ist noch nie in der gleichen Situation gewesen.
      Alles Liebe für euch. Bleibt stark ❤

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  2. hallo, ich habe lange nicht rein geschaut in deinen Blog. Also mein Sohn hatte einen Nierentumor bösartig. Tumor mit Niere wurden entfernt. Aber er hat auch Metastasen in der Lunge und durch die hat er bald seine 7.Operation. Ich verstehe als du geschrieben hast, dass Mika einen anderen „Blick“ hatte nach seiner Not OP. Bis jetzt hat mein Sohn die Ops gut vertragen, aber seit der letzten merke ich auch, dass er sich verändert hat und mit 8 Jahren mehr Erwachsen als Kind ist.Ich frage ihn immer wie ich ihn aufmuntern kann, weil er so einen traurigen Andruck macht, er sagt immer es geht ihm gut. Aber ich sehe er hat sich verändert.Ich habe lange nicht in deinen Blog geschaut, weil ich mich zwischendrin von diesem „Thema“ fernhalten muss. Aber ich hole alles schnell nach. Für euch alles alles Gute:-)

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    1. Liebe Vici,
      das klingt wirklich schlimm 😦 7 Operationen, das sollte kein Kind aushalten müssen 😦 Und das in so kurzer Zeit, das ist einfach furchtbar. Ja, die Kinder verändern sich. Das haben sie uns auch im Krankenhaus immer gesagt, Kinder die so einen Weg bekommen sind ganz besondere Kinder und sie müssen viel schneller erwachsen werden. Und wenn ein 5 Monate alter Säugling schon so erwachsen aussieht, wie muss es dann erst bei einem Kind sein, dass halbwegs verstehen kann, was los ist? Weiß dein Sohn was er hat? Es tut mir so leid, dass ihr so kämpfen müsst. Ich wünsche euch alles Glück der Welt. Ich kann gut verstehen, wenn du dich mal rausnehmen musst. Ich bin bei Facebook in einer Gruppe, in der Eltern von Kindern mit ATRT sind und es gibt Tage, da ertrage ich das nicht gut und muss einfach eine Pause machen.
      Alles Liebe, gute Besserung und viel viel Kraft für die OP und die Erholungszeit ❤ Ich denke an euch.

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