Eskalation

Nach deiner OP war irgendwas komisch mit dir. Du wurdest irgendwie nicht richtig wach. Warst groggy. Den ganzen Tag über warst du immer nur mal für sehr kurze Zeit wach und schliefst immer wieder ein. Wir haben uns da erst gar keine Gedanken drüber gemacht, kannten wir das doch schon von der Biopsie. Aber mit der Zeit wurden die Ärzte nervös. War es doch nur ein kleiner Eingriff gewesen. Mit großer Besorgnis habe ich auch deinen  Herzschlagmonitor betrachtet. Erst war der Herzschlag immer um die 120/110. Dann war das höchste plötzlich 90. Dann 80. Schleichend ging es immer weiter nach unten. Dann war dein Herzschlag plötzlich das erste Mal unter 70. Dein Monitor fing an Alarm zu machen, alle waren furchtbar nervös. Die Nacht war der Horror. Auch am nächsten morgen wolltest du nicht richtig wach sein. Und dann passierte das Schlimmste, was wir bisher erleben mussten: du konntest nicht mehr richtig sehen. Ich stand vor dir und deine Augen konnten mich nicht erfassen. Rollten einfach zur Seite. Du warst wach und bei Bewusstsein, und konntest mich doch nicht sehen. Ein unbeschreibliches Grauen hat das bei mir ausgelöst. Wir waren so verzweifelt. Wir versuchten für dich da zu sein und dich zu trösten und du konntest uns nichtmal mehr sehen. Ich wünsche so etwas niemandem auf der Welt, so grausam war es dich so zu sehen. Die Ärzte schallten dein Köpfchen. Akuter Hirndruck, Vigilanzminderung, Verlust der Kontrolle über die Augenmotorik. Deine Pupillen reagierten, dein Sehnerv war also nicht geschädigt, immerhin. Helfen konnte die Erkenntnis nicht. Sie versuchten über das Ommaya-Reservoir Liquor,  also Hirnwasser, abzulassen. Klappte auch, reichte aber nicht. Es änderte sich nichts. Konsequenz: Not-OP. Auf einmal standen alle Ärzte um uns herum und erklärten uns, dass wir dich sofort operieren lassen mussten. „Wie lange sollen wir das denn noch mitmachen, was soll das denn alles bringen?“ habe ich weinend gefragt. Hatte ich doch das Gefühl, ich schaue dir seit Wochen trotz aller Bemühungen nur langsam beim Sterben zu. Wieder Aufklärungen, hastig, hastig, schnell Unterschriften geben, schnell im OP anrufen. Hastig mit dir zum Aufwachraum rennen, während der Monitor piepte und arlarmierte. Gelber Alarm, roter Alarm. Ich habe nur noch ein Mal mehr Angst gehabt in meinem Leben, und das war an dem Abend deines Todes. Wieder haben sie dich weggenommen. Diesmal hast du nicht geweint, und das war fast noch schlimmer. Du konntest nicht, warst schlapp und konntest nichts sehen. Passiv und schlaff hingst du in den Armen des Anästhesisten, der uns mit seinen braunen Hundeaugen traurig ansah. Ich hatte nur noch Bruchstücke der Gespräche im Kopf: Tumor entfernen so weit es geht, ja leider auch Hirngewebe entfernen. Drainage setzen. Die Vorstellung wie du wieder im OP lagst und sie deinen kleinen Kopf wieder aufschnitten, dich noch mehr verletzten, war unerträglich. Aber die Alternative wäre dein sicherer Tod gewesen, noch viel unerträglicher. Manchmal hat man nur die Wahl zwischen Leid und noch mehr Leid. Es ist so schwer, diese Entscheidungen zu treffen. Konnten wir dich doch nicht fragen. Aber ich bin froh, dass wir so entschieden haben. Die OP hat uns zwei weitere Wochen mit dir geschenkt. Zwei wertvolle Wochen, um unsere gegenseitige Anwensenheit zu genießen, um zu weinen, um zu lachen und zu singen, um zu kuscheln, um mit dem Akzeptieren zu beginnen und um Abschied zu nehmen, wir von dir und du von uns.

6 Gedanken zu “Eskalation

  1. Ich bewundere deine Kraft und deine Stärke, das Erlebte mit eurem Mika alles niederzuschreiben. Ich hab bei jedem neuen Bericht von Dir wieder aufs neue Tränen in den Augen.

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    1. Ich danke dir. Es ist aber weniger Stärke, viel mehr Verarbeitungsstrategie und die Möglichkeit, Mika ein Denkmal zu setzen. Ich wünsche mir, dass ich mit diesem Blog so viele Leute erreichen kann, wie er vielleicht in seinem Leben kennen gelernt hätte, wäre es normal abgelaufen. Ich hab das Gefühl wenigstens das kann ich noch für ihn tun.

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      1. Ich finde dennoch, dass du eine sehr starke Frau bist, weil ich wüsste nicht, ob ich das könnte so zeitnah nach dem Erlebten es niederschreiben zu können. Ich bin auch Mama und ich glaube ich würde in der Trauer versinken. Ich werde deinen Blog weiterverbreiten.

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      2. Danke, das ist sehr lieb von dir. Ich freu mich.
        Ich denke jeder geht mit Trauer anders um und jeder Weg ist in Ordnung. Ich konnte die ersten Tage auch kaum aufstehen. Aber so lange man irgendwas tut, hat man ein gewisses Maß an Kontrolle und das ist für mich offenbar gut. Mag für jemand anderen total falsch sein. Trauer ist einfach was total individuelles.

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  2. Ich habe einen dicken Kloß im Hals. Kein Wort kann euch den Schmerz nehmen. Danke, das du so tapfer schreibst…und uns teilhaben lässt. Ich wünsche dir sehr, dass dir das schreiben beim verarbeiten helfen kann.
    stille Grüße
    Steph (Admin Krebs ist ein Arschloch)

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    1. Liebe Steph,
      danke, dass du reinliest. Danke für deine lieben Zeilen. Ja das hoffe ich auch. Auf jeden Fall ist es eine Aufgabe und eine Möglichkeit der Auseinandersetzung und das ist gut und wichtig denke ich.
      Lieben Gruß,
      Ricarda

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